„Die blaue Stunde“ – Zwischen Tag und Traum
- Susanne Heinen
- 31. Mai
- 7 Min. Lesezeit

Sie ist wie ein Moment in der Schwebe: Die blaue Stunde, dieser feine Übergang zwischen Tag und Nacht, taucht die Welt in ein sanftes, kühles Licht. Straßen beginnen zu leuchten, der Himmel changiert in tiefem Blau. Es ist eine Stunde des Innehaltens und des Durchatmens. Kein Wunder, dass diese besondere Zeitspanne seit Jahrhunderten Dichter, Maler, Komponisten und Denker inspiriert.
Im Jahr 2025 habe ich im Rahmen der Farbkreisreise eine neue Artikelreihe begonnen: die Farb-Anekdote. Jeden Monat tauche ich in eine andere Farbe ein, lese, recherchiere, sammle Eindrücke und lasse mich von Assoziationen und Stimmungen leiten.
Die blaue Stunde hat mich auf ganz persönliche Weise berührt. Ich erinnere mich noch genau, wie ich Ende der 1980er Jahre, mit 14 Jahren, zum ersten Mal das Lied „Nightporter“ von der Band Japan (David Sylvian) hörte. Diese fragile, melancholische Musik zwischen Licht und Dunkel wurde für mich zum Inbegriff der blauen Stunde. Seitdem verbindet sie sich in meinem Empfinden mit Tiefe, Schweigen und dem Gefühl des Übergangs. Besonders beim künstlerischen Arbeiten, sei es malerisch oder schreibend, empfinde ich die Verbindung zu Farbstimmungen als sehr bereichernd, weil sie mir hilft, tiefer in eine Themenwelt einzutauchen.
In dieser Farb-Anekdote nähere ich mich der blauen Stunde aus unterschiedlichen Perspektiven, kunsthistorisch, literarisch, atmosphärisch und mit einem Blick auf ihre heutige Relevanz. Dieser erste Artikel eröffnet die Serie und führt in den Begriff ein, beleuchtet seine Herkunft und zeigt erste Spuren in Kunst und Kultur.
Darum geht es in diesem Artikel:

Die Herkunft des Begriffs „Blaue Stunde“
Der Ausdruck l’heure bleue (dt. „blaue Stunde“) stammt aus dem Frankreich des späten 19. Jahrhunderts. Er bezeichnet die Zeit der Dämmerung, in der das Sonnenlicht bereits verschwunden ist, aber die Dunkelheit noch nicht vollständig eingetreten ist. Diese Phase ist geprägt von einem charakteristischen blauen Licht, das durch die Streuung des Sonnenlichts in der Atmosphäre entsteht.

Eine der frühesten schriftlichen Erwähnungen findet sich bei der französischen Schriftstellerin, Varietékünstlerin und Journalistin Colette (1873–1954).
In ihren autobiografischen Erinnerungen, insbesondere in den „Souvenirs entremêlés“ (1954), beschreibt sie l’heure bleue als sinnliche, offene Zeit voller Düfte und Verheißungen, in der Frauen Parfum auflegen, bevor sie das Haus verlassen.
*Bildquelle: wikipedia
Lizenz: gemeinfrei
Ursprünglich tauchte l’heure bleue vermutlich in der Pariser Bohème des 19. Jahrhunderts auf, wo Dichter und Maler die Stimmung der blauen Stunde als besonders inspirierend empfanden. Auch im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff bald populär, allerdings zunächst mit einer leicht abgewandelten Bedeutung. Hier stand die blaue Stunde für die Phase am Abend nach dem letzten Glas Wein, als eine Stunde des Nachklangs, der Gespräche und des Ausklangs vom Tag.
Mit der Zeit entwickelte sich daraus eine poetische Metapher für einen stillen Zwischenraum zwischen Tag und Nacht, durchzogen von sanftem Licht. Die blaue Stunde wurde zum Bild für Sehnsucht, Melancholie und jene schwer greifbare Stille, die in solchen Momenten spürbar ist.
Die blaue Stunde: Zwischen Licht und Dunkel
Die blaue Stunde weckt eine besondere Aufmerksamkeit für feine Nuancen. Kein Wunder, dass sie zur Muse zahlreicher Maler, Dichter und Fotografen wurde. Zwischen Tag und Nacht liegend, ist dieser Augenblick leise und manchmal so zart, dass er fast unbemerkt bleibt.

Wie ein Zwischenton im Verlauf des Tages, melancholisch, weich, zurückgenommen.
Straßenlaternen flackern auf, während das Tageslicht sich in ein tiefes Blau zurückzieht.
Wer die blaue Stunde erlebt, kennt dieses Gefühl: Die Welt atmet anders, langsamer. Der Blick wird offen für Feinheiten, für Schatten und Schimmer.
Die Farbe Blau steht kulturgeschichtlich für Tiefe, Sehnsucht, Stille, aber auch für Ferne, Transzendenz und Unendlichkeit. Es ist die Farbe des Himmels, des Wassers, des Nachsinnens. In der blauen Stunde zeigt sich nicht das kräftige Blau des Mittags, sondern ein verwaschenes, samtiges Blau, das manchmal violette oder graue Nuancen annimmt. Die Farben verlieren ihre Härte, Details treten zurück, Kontraste weichen.
Genau das macht diese Stunde so besonders: Sie öffnet ein ästhetisches Feld für Reduktion und Empfindung. Die blaue Stunde wird so zur Bühne für Übergänge zwischen Tag und Nacht, Aktivität und Ruhe, Sichtbarkeit und Verbergen.
„Blau ist die einzige Farbe, bei der ich mich wohlfühle.“
Pablo Picasso
Die Atmosphäre der blauen Stunde
Die „blaue Stunde“ bezeichnet die besondere Zeit während der Dämmerung, in der die Sonne knapp unter dem Horizont steht, etwa vier bis acht Grad darunter. Dabei handelt es sich nicht um eine exakte Zeitangabe, sondern um einen atmosphärischen Begriff. In diesem Moment wird der Himmel von einem sanften, kühlen Blau erfüllt, das durch das indirekte, gestreute Licht entsteht und eine fast magische Stimmung webt. Ursprünglich beschrieb der Begriff vor allem den flüchtigen Augenblick der Abenddämmerung, in dem die Helligkeit des Tages verblasst und ein blau-violettes Licht die Landschaft überzieht.
Im deutschsprachigen Raum fand die blaue Stunde im 19. Jahrhundert Eingang in die Dichtung und in kunsttheoretische Schriften, wenn auch nicht immer unter der exakten Begrifflichkeit der „blauen Stunde“.
Hier drei Beispiele:
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) charakterisierte in seiner Farbenlehre das Blau als Farbe der Sehnsucht und Ferne, die in die Weite und das Unbekannte führt.
Novalis (1772–1801) deutete in seinen „Hymnen an die Nacht“ die Dämmerung als Schwelle zum Transzendenten, als Übergang in eine mystische, jenseitige Welt.
Philipp Otto Runge (1777–1810) suchte in seinen Gemälden die Darstellung seelischer Zustände durch die feinen Übergänge des Lichts, wobei besonders das Spiel von Dämmerung und Blau im Fokus stand.
Im späten 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die „blaue Stunde“ zunehmend zum Sinnbild einer fein gestimmten Wahrnehmung. Die französischen Symbolisten wie Paul Verlaine (1844–1896), Stéphane Mallarmé (1842–1898) oder Henri de Régnier (1864–1936) beschrieben in ihren Versen das Gefühl der blauen Stunde zwischen Licht und Dunkel.
Der Begriff wurde zudem bald in der Parfümindustrie aufgenommen. Parfümeure schätzten diese besondere Stunde, weil die kühle und dichte Luft den Duft besser trägt. In der Welt der Düfte stand l’heure bleue nicht nur für die Zeit des Übergangs, sondern auch für den Moment, in dem sich ein Parfum besonders gut entfaltet. Besonders bekannt ist der berühmte Duft „L’Heure Bleue“ von Guerlain aus dem Jahr 1912, der diesen „Zwischenmoment“ olfaktorisch einfing: melancholisch, pudrig, mit Noten von Iris, Veilchen und Vanille.
Die blaue Stunde wurde so zum Symbol einer feinsinnigen Moderne, die nicht mehr auf eindeutige Botschaften, sondern auf subtile Stimmung setzte. Jugendstil, Symbolismus und beginnende Moderne betonen den besonderen Reiz diffuser Lichtstimmungen, des Halbdunkels, des atmosphärischen Moments. Sie wurde zum Bild für Zwischenräume, zeitlich wie seelisch, und stand für Empfindsamkeit, für das Lauschen auf die leisen Töne des Lebens und das Nachspüren der feinen Stimmungen, die sonst leicht übersehen werden.
Gegenwart: Die blaue Stunde in moderner Kunst und Kultur
Heute ist die blaue Stunde weit mehr als nur ein Begriff aus Kunst und Literatur, sie hat sich zu einem festen Begriff in zahlreichen kreativen Feldern entwickelt. In der Fotografie gilt die „blue hour“ als idealer Moment für stimmungsvolle Aufnahmen. Das weiche, diffuse Licht macht urbane Szenen ebenso faszinierend wie stille Berglandschaften im Zwielicht. Auf Plattformen wie Instagram oder Flickr zeigen unzählige Bilder unter #bluehour die weltweite Faszination dieses besonderen Augenblicks.
Auch in der Musik prägt die blaue Stunde viele Werke: Im Jazz, Chanson oder Ambient fängt sie das Gefühl der Schwebe zwischen Tag und Nacht, zwischen Aktivität und Ruhe ein.
Als Metapher bleibt die blaue Stunde in Film, Theater und Literatur lebendig. Sie steht für Übergänge, innere Zwiespältigkeit und das fragile Gleichgewicht von Licht und Dunkelheit, einen Moment der Reflexion und des Innehaltens. So bleibt die blaue Stunde ein zeitloses Symbol, das auch heute noch zahlreiche kreative Ausdrucksformen inspiriert.
Mein Fazit: Die blaue Stunde, ein stiller Zauber
Die blaue Stunde gehört zu diesen Momenten, die sich nicht festhalten lassen. Sie hat kein Ziel, verfolgt kein Programm und vielleicht ist genau das ihr Geheimnis. Sie ist einfach da, still, versonnen, mit einem Licht, das alles weichzeichnet.

In unserem jetzigen Lebensrhythmus von dauernder Verfügbarkeit wirkt der Begriff „blaue Stunde“ fast etwas aus der Zeit gefallen.
Doch es gibt sie, diese Momente jenseits von Funktion und Ziel, diese Augenblicke, in denen alles stillsteht. Vielleicht ist das der große Zauber der blauen Stunde: Sie verlangt nichts, sie ist einfach da. Es liegt ganz an dir, ob du ihr Aufmerksamkeit schenken möchtest.
„Es gibt eine Stunde am Abend, wo alles möglich scheint, weil alles zur Ruhe kommt.“
Wer bewusst in die blaue Stunde geht, findet dort vielleicht nicht nur ein besonderes Licht, sondern auch einen neuen Blick auf sich selbst. Sie ist nicht nur ein Phänomen des Himmels, sie rührt auch an der Seele, dem inneren Erleben.
Was als Nächstes kommt: „Die blaue Stunde“ in Kunst, Literatur und Musik
In dieser ersten Folge meiner Farb-Anekdote zur blauen Stunde ging es um Herkunft, Begriff und die besondere Atmosphäre dieser geheimnisvollen Zwischenzeit.
Im nächsten Teil der Serie tauchen wir tiefer ein in die vielfältigen künstlerischen und kulturellen Facetten der blauen Stunde. Wir schauen, wie Malerei, Literatur und Musik das besondere Blau und die Stimmung dieser Zeit eingefangen haben, von klassischen Meisterwerken bis zu modernen Interpretationen.

Impuls zum Abschluss:
Beobachte in den nächsten Tagen den Himmel in der Dämmerung. Wann genau beginnt für dich die blaue Stunde? Wie verändert sich die Welt in diesem Licht?
Notiere in wenigen Worten, was in diesem Augenblick sichtbar wird, draußen und in dir.
Ich freue mich über einen Austausch mit dir in den Kommentaren.

Weiterführende Artikel:
Dieser Artikel ist Teil der Artikelserie „Farb-Anekdoten: Wenn Farben Geschichten erzählen“. Den Blogartikel mit allen Artikeln zum Nachlesen findest du hier.
Dieser Artikel gehört thematisch zur Farbe Blau der Farbkreise im Mai 2025. Wenn du mehr über die Farbkreisreise erfahren möchtest, findest du dort alle Informationen zu den Aktionen und Themen des Monats.
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Liebe Susanne, bevor ich zum Lesen kam, musste ich erst einmal ausgiebig dein Titelbild betrachten. Ich bin schockverliebt.
Ich finde, dein Artikel über die blaue Stunde ist wie ein Streifzug durch Licht, Farbe, Geschichte und Atmosphäre – und dabei so einladend geschrieben, dass ich als Leserin tief in diese besondere Zeitqualität eintauchen konnte. Gerade weil du kunsthistorisches Wissen mit persönlichen Erlebnissen und poetischen Beobachtungen verbindest, entsteht eine Brücke – auch für Menschen wie mich, die sich nicht regelmäßig mit Kunst oder Kultur beschäftigen. Ich finde: Wer schon einmal das Licht und die Stimmung in der Dämmerung bewusst wahrgenommen hat, kann sich in deinem Text wiederfinden.
Mich hat besonders die Verbindung zwischen Farbempfinden und innerem Erleben berührt – dieser feine Raum…