Omotenashi im Alltag – Freundlichkeit, die niemand sieht
- Susanne Heinen

- vor 5 Tagen
- 5 Min. Lesezeit

Heute möchte ich eine kleine Geschichte mit dir teilen, die mich sehr nachdenklich gemacht hat. Im Internet bin ich auf eine kurze Begebenheit aus Japan gestoßen, die mich sehr berührt hat: Mitarbeiter, die dort zur Arbeit fahren, parken nicht einfach auf dem vorderen Parkplatz am Eingang. Sie wählen bewusst die Plätze weiter hinten, damit Kollegen, die vielleicht zu spät sind, die vorderen Stellplätze nutzen können. Eine einfache, freundliche Aufmerksamkeit. Und ich fragte mich: Würden wir hier auch so handeln? Oder ist diese Art von Rücksichtnahme bei uns seltener geworden, weil jeder nur noch seinen eigenen Weg geht?
Niemand spricht darüber, niemand lobt diese Geste, und genau das macht sie so besonders. Eine kleine Sache, ein Zeichen von Rücksichtnahme, das den Alltag für einen anderen leichter macht, ohne dass eine Gegenleistung oder ein Dank erwartet wird.
Genau diesem Gedanken von Omotenashi möchte ich weiter nachspüren.

Das ist das Türchen 9 von meinem Blog-Adventskalender 2025. Omotenashi zeigt, wie Rücksichtnahme und selbstlose Gesten Freude schenken, verwurzelt in japanischer Philosophie und der Teezeremonie.
Das sind die Inhalte dieses Artikels.
Was ist Omotenashi? – Ursprung und Bedeutung

Omotenashi (japanisch: おもてなし) wird häufig mit „Gastfreundschaft“ übersetzt, umfasst jedoch weit mehr.
Der Begriff entstammt der traditionellen japanischen Teezeremonie (Sadō), in der der Gastgeber dem Gast mit größter Aufmerksamkeit, Sorgfalt und ohne Erwartung einer Gegenleistung begegnet.
Wesentlich ist das Wortspiel „omote ura nashi“ (japanisch: 表裏なし) – „ohne Vorder- und Rückseite“. Gemeint ist eine Haltung der Aufrichtigkeit, in der nichts verborgen, nichts berechnet ist.
Im Alltag zeigt sich Omotenashi in kleinen Gesten, die anderen das Leben leichter machen: Rücksicht, Achtsamkeit, Fürsorge, ohne Anerkennung zu verlangen. Diese Haltung schafft Ruhe und Verbundenheit, selbst in einer schnelllebigen Zeit.
Philosophische Wurzeln von Omotenashi
Omotenashi entstand im 16. Jahrhundert bei Sen no Rikyū im Rahmen der Teezeremonie (Sadō) und ist eng mit dem Zen-Buddhismus verbunden.

Sen no Rikyū (1522–1591) gilt als der wohl einflussreichste Tee-Meister Japans und eine prägende Figur der japanischen Kultur.
In der Teezeremonie setzte er Omotenashi in die Praxis um: kleine, selbstlose Aufmerksamkeiten, die ohne Hintergedanken geschenkt werden und keine Gegenleistung erwarten. Gleichzeitig prägte er die Ästhetik von Wabi-Sabi, die Schönheit in Einfachheit, Vergänglichkeit und Imperfektion.
Sein Einfluss reicht weit über die Teezeremonie hinaus. Architektur, Design und der Umgang miteinander in Japan tragen bis heute seine Handschrift.
Omotenashi betont Achtsamkeit (Ma), Selbstlosigkeit und „omote ura nashi“, eine Haltung reiner Integrität ohne Hintergedanken.
Die Philosophie hinter Omotenashi ist eng mit zentralen japanischen Werten verbunden: Wa (Harmonie), Wabi-sabi (die Schönheit der Vergänglichkeit), Gaman (Selbstbeherrschung).
Kleine, selbstlose Gesten bereichern den Alltag und zeigen, dass wahre Freundlichkeit oft im Verborgenen wirkt. Diese Gesten entfalten ihre Wirkung unbemerkt, in den kaum wahrnehmbaren Momenten des Alltags, und formen eine bodenständige, tatkräftige Haltung mit Blick auf das Wohl anderer.
Bildquelle Porträt von Sen no Rikyū: wikipedia
Lizenz: gemeinfrei
💡Mini-Glossar: Omotenashi & Co.
Omotenashi (おもてなし) – Die Kunst selbstloser Gastfreundschaft: kleine Aufmerksamkeiten und Rücksichten, die ohne Gegenleistung geschenkt werden.
Omote ura nashi (表裏なし) – „Ohne Vorder- und Rückseite“: Handeln ohne Hintergedanken, ehrlich und aufrichtig.
Wabi-Sabi (侘寂) – Die Schönheit in Einfachheit, Vergänglichkeit und Unvollkommenheit.
Wa (和) – Harmonie: Rücksicht auf andere und ein ausgewogenes Miteinander.
Gaman (我慢) – Selbstbeherrschung: Geduld, innere Stärke und das Aushalten von Schwierigkeiten.
Ma (間) – Achtsamer Abstand oder Raum: bewusste Wahrnehmung von Momenten, Pausen und dem Zwischenraum.
Omotenashi im Alltag – kleine Gesten, große Wirkung
Im Alltag zeigt sich Omotenashi oft in kleinen, selbstlosen Handlungen: Wer einen Parkplatz weiter hinten wählt, das letzte Stück Kuchen für den Nächsten stehen lässt oder einem Kollegen den Weg freimacht – all das schenkt unbemerkt Freude.
Viele dieser Tugenden gehörten zu dem Alltag, in dem ich aufgewachsen bin: Rücksicht, Aufmerksamkeit, Freundlichkeit ohne Gegenleistung. Wir lernten sie in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule. Heute wirken sie manchmal wie Relikte einer anderen Zeit. Wer vermittelt sie heute noch? Ist diese Art zu handeln fast verschwunden?
Und doch gibt es sie, wenn man genau hinschaut. Die Nachbarin, die Einkäufe für einen älteren Mitmenschen hochträgt. Der Kollege, der die Türe aufhält, obwohl er es eilig hat. Der Busfahrer, der eine Minute wartet, damit ein verspäteter Fahrgast noch mitkommt. Kleine Handlungen, die den Tag für einen anderen Menschen leichter machen und ihm ein gutes Gefühl geben.
Adventliche Inspiration – stille Gesten bewusst leben
Vielleicht liegt darin die stille Kraft von Omotenashi: eine Freundlichkeit, die keine Gegenleistung erwartet. Großzügigkeit muss nicht auffallen. Sie zeigt sich in den kleinen Momenten, in denen wir an andere denken, ohne uns selbst in den Vordergrund zu stellen. Genau diese Haltung kann den Umgang miteinander wärmer und achtsamer machen, im Alltag und besonders in der Adventszeit.
Was dir die Beschäftigung mit Omotenashi bringt:
Innere Ruhe: Achtsamkeit (Ma) reduziert Stress
Tiefere Beziehungen: Selbstlose Gesten stärken Vertrauen
Freude im Geben: Erfüllung ohne Dankeserwartung
Dein Omotenashi-Moment heute:
Welche kleine, unsichtbare Geste könntest du setzen? Ein Parkplatz weiter hinten, ein Lächeln schenken, eine Türe, die du offenhältst? Notiere sie für dich – und lass sie unbemerkt wirken.
»Freundlichkeit in Worten schafft Vertrauen.
Freundlichkeit im Denken schafft Tiefe.
Freundlichkeit im Geben schafft Liebe.«
Laotse (vermutlich 6. Jh. v. Chr.)

Ich freue mich sehr auf deinen Gedanken und Austausch in den Kommentaren.
Literaturtipps: Bücher über Omotenashi, Teezeremonie und Sen no Rikyū
Yumi Shimizu: Omotenashi – Der japanische Weg zur Spitzenführung: Wie Empathie und Detailgenauigkeit Ihre Strategie transformieren*
epubli Verlag, 2025. Praxisnaher Einblick, wie Omotenashi als Haltung in Führung und Management umgesetzt werden kann.
Wolfgang Fehrer: Das japanische Teehaus: Architektur und Zeremonie*
Niggli Verlag, 2018. Detaillierte Darstellung der Teezeremonie, ihrer Architektur und der kulturellen Hintergründe von Omotenashi.
Yasushi Inoue: Der Tod des Teemeisters*
Suhrkamp Verlag, 2007 (deutsche Ausgabe). Roman über das Leben von Sen no Rikyū und die Philosophie der Teezeremonie, die Omotenashi lebendig macht.
*Wenn in diesem Blogbeitrag Logos, Markennamen, Namen, Bücher, Filme, Produkte etc. zu sehen sind, dann handelt es sich immer um unbezahlte Werbung oder um Eigenbesitz, also selbst gekauft und bezahlt.
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Omotenashi finde ich sehr berührend, gerade das verborgene Wohltun.. Ich möchte es gerne weiter üben, mich darin üben, ohne Ansehen oder Lob auszukommen. Das ist ja auch eine große Entlastung...
Liebe Grüße und danke für den wu der Ar zusammengestellten Artikel! Auch für die Literatur. 🙋🏼♀️💖🕊️
Liebe Susanne,
Omotenashi gefällt mir. Es erinnert mich ein wenig an den "aufgeschobenen Kaffee", den ich bezahle und den jemand anderes, vielleicht ein wohnungsloser Mensch, dann heiß genießen wird. Ich mag diese kleinen, unaufgeregten und vor allem erwartungslosen Aufmerksamkeiten.
Liebe Grüße
Silke
Liebe Susanne,
Japaner haben so schöne Wörter für subtile Dinge und Erlebnisse, für die anderen Kulturen die Worte fehlen. Danke für dieses klangvolle Wort.
Heute Früh, beim Rudern am Rudergerät habe ich eine Folge aus dem Podcast Smarter Leben des Spiegel Verlags gehört. Es ging darum, wie Kommunikation unser Wohlbefinden beeinflusst. Ganz zum Schluss ging es darum, wie eine Freundlichkeit zu weiteren Freundlichkeiten führen (können). Das ist ein bisschen wie Omotenashi! Lohnt sich, anzuhören!
Liebe Grüße
Steffi
Wie wunderschön und wohltuend! Omotenashi kannte ich bisher noch nicht, nur Kintsugi, das mich auch fasziniert. Bin gespannt, ob es mir gelingt, Omotenashi zu praktizieren. Jedenfalls nehme ich den Impuls gerne auf.
Omotenashi mag ich.
Irgendwie ist es auch ein Teil von mir.
Wobei sich in den letzten Jahren in mir auch manches verändert hat und ich zwar immer noch selten darauf bedacht bin, eine Gegenleistung zu erwarten / erhalten.
Aber auch nicht mehr ausgenutzt werden möchte