top of page

Vom Album amicorum zum Poesiealbum: Eine Kulturgeschichte der Freundschaft

Ein altes Poesiealbum liegt auf einem Tisch.

In diesem Artikel geht es um ein Relikt aus einer anderen Zeit, das Poesiealbum, mit dem ich im September 2025 ganz unverhofft wieder in Berührung gekommen bin. Vielleicht hast du aufgrund deines Alters gar keinen Bezug dazu, doch für viele Menschen, die zwischen 1940 und 1990 geboren wurden, ist ein solches Album wie ein kleiner Schatz: Erinnerungen, Freundschaften und persönliche Botschaften, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg in diesem Büchlein bewahrt wurden.


Doch warum greife ich ausgerechnet dieses Thema auf?


Bild zur Aktion "Pastell-Poesie"
Monatsaktion »„Pastell-Poesie“: Deine Doppelseite im Poesiealbum«

Im Rahmen der Farbkreisreise zur Farbe Apricot im September 2025 gibt es eine besondere Aktion, die Pastell-Poesie. Eine Mitmachaktion im Newsletter der Farbkreisreise, die noch bis zum 31. Oktober 2025 läuft.


Aufgabe ist es, basierend auf meinem Workbook, eine eigene Poesiealbum-Seite zu gestalten, mit Zeilen, die man sich selbst oder anderen gerne mitgeben möchte. Am Ende sollen die einzelnen Seiten miteinander verbunden werden, wie früher die Einträge in einem gemeinsamen Album. Alle Informationen dazu findest du in den verlinkten Blogbeiträgen oben.




Erinnerungen kommen ans Licht


Diese Aktion hat erstaunlich viele Emotionen geweckt und zu zahlreichen Rückmeldungen bei mir geführt. Viele haben ihren Keller und ihre Dachböden durchstöbert, haben Kontakt zu Eltern oder Geschwistern aufgenommen und suchten nach ihrem alten Poesiealbum. Manche fanden es tatsächlich wieder, zwischen vergessenen Kisten und vergilbten Fotos, andere erinnerten sich nur an einzelne Seiten, Sprüche oder kleine Zeichnungen.


Auch ich selbst war auf der Suche, und durch einen großen Zufall tauchte mein altes Poesiealbum aus den 1980er-Jahren in der Garage meiner Eltern auf. Was habe ich mich gefreut, diese alten Seiten noch einmal zu sehen, durchzublättern und mich zu erinnern.


Mein altes Poesiealbum, begonnen im Mai 1981:


Ein Poesiealbum liegt aufgeschlagen da.

Besonders schön war, wie viele Teilnehmende der Farbkreisreise ihre eigenen Erinnerungen teilten, von alten Fundstücken berichteten und gemeinsam in die Welt der Poesiealben eintauchten. All diesen Erinnerungen, Fotos und Erzählungen werde ich im zweiten Teil dieser Artikelreihe Raum geben. Auch du bist herzlich willkommen, Bilder, Geschichten und Erinnerungen zu deinem Poesiealbum beizusteuern. Schreib mir gerne.


In diesem Artikel geht es also um die Tradition und die Entstehung des Poesiealbums, um seine Wurzeln an den Universitäten des 16. Jahrhunderts und seine Entwicklung über die Jahrhunderte, bis in die bürgerlichen Kinderzimmer des 19. Jahrhunderts und weiter in unsere Zeit.


Inhaltsverzeichnis:


  1. Die Wurzeln des Poesiealbums

    1. Vom Album amicorum zur frühen Tradition: Studierende, Stammbücher und soziale Funktionen

  2. Vom Stammbuch zum Poesiealbum

    1. Übergang ins Bürgertum, typische Inhalte und Gestaltung im 19. Jahrhundert

  3. Die Magie der Einträge

    1. Persönliche Botschaften, kleine Zeichnungen, Glanzbilder und Erinnerungen über Generationen

  4. Poesiealbum heute

    1. Digitale Gästebücher, Freundebücher in Kindergärten und Schulen sowie moderne kreative Formen wie Collagen, Scrapbooks und Fotoalben

  5. Fazit/Ausblick auf Teil 2 der Artikelreihe

    1. Zusammenfassung, Bedeutung für heute und Hinweis auf den zweiten Teil der Artikelreihe.

  6. Weiterführende Werke zum Thema

    1. Literaturtipps, Ausstellungskataloge und Sammlungen für tiefergehende Einblicke



Die Wurzeln des Poesiealbums


Wenn man heute an ein Poesiealbum denkt, erscheinen zarte Eintragungen auf cremefarbenem Papier, Glanzbilder von Rosen, Vögeln oder freundlichen Kindern, handschriftliche Grüße, kleine Zeichnungen, manchmal getrocknete Blumen. Ein Schatzkästchen der Erinnerung, das Freundschaften festhält und Vergängliches bewahrt.


Ursprung an den Universitäten des 16. Jahrhunderts


Die Urform des Poesiealbums war das Album amicorum, das „Freundschaftsalbum“ der frühen Neuzeit. Studierende, die ab dem 16. Jahrhundert durch Europa reisten, sammelten darin Widmungen, Sprüche, Zeichnungen oder Wappen ihrer Lehrer und Weggefährten. Die Einträge waren sorgfältig gestaltet, oft kalligrafisch, mit kunstvollen Illustrationen und in lateinischer Sprache. Das Album diente sowohl der Erinnerung als auch dem Aufbau sozialer Kontakte über Ländergrenzen hinweg und gleichzeitig als Beweis von Bildung und sozialer Zugehörigkeit.


Philipp Hainhofer im Stammbuch
Philipp Hainhofer im Stammbuch, ca. 1610

Ein berühmtes Beispiel ist das „Große Stammbuch“ des Philipp Hainhofer (1578–1647), das zeigt, wie kunstvoll und zugleich bedeutungsträchtig diese Einträge gestaltet wurden.


Jede Seite erzählt von Begegnungen, Reisen und Beziehungen, von einem Leben, das in Worten und Bildern festgehalten wurde.







Vom Stammbuch zum Poesiealbum


Mit dem 18. Jahrhundert verlässt das Stammbuch die akademische Welt und wird Teil des bürgerlichen Lebens. Waren Stammbücher zuvor ein Privileg der Studierenden und Gelehrten, so hielt das Poesiealbum im 18. und 19. Jahrhundert Einzug in viele bürgerliche Haushalte.


Übergang ins Bürgertum, Glanzbilder und Reime


Im Laufe dieser Epoche wandelte sich die Tradition grundlegend: Aus dem Stammbuch entstand das Poesiealbum, das hauptsächlich bei jungen Mädchen und Frauen beliebt war, aber gelegentlich führten auch Jungen und Erwachsene ein eigenes Album.


An die Stelle lateinischer Sinnsprüche traten jetzt Verse, Reime und Lebensweisheiten. Die Seiten wurden mit Glanzbildern, Zeichnungen und getrockneten Blumen geschmückt. Zarte Spuren, mühsam gepflückt, von Hand gemalt und geschrieben.


Typische Motive waren Rosen, Tulpen, Nelken, Märchenfiguren und Vögel. Oft wurden Verse wie

„Rosen, Tulpen, Nelken – alle Blumen welken. Nur die eine nicht, und sie heißt Vergissmeinnicht.“

eingetragen und liebevoll verziert.


Das Poesiealbum war wie ein kleiner Spiegel seiner Zeit: voller Sentimentalität, von moralischen Vorstellungen geprägt und gleichzeitig ein Ort für kreative Experimente. Es half nicht nur beim Lernen, wie man sich richtig verhält, sondern bot auch Raum, die eigenen Gedanken, Wünsche und Gefühle festzuhalten.


Eine Art persönliche Orientierung in einer Welt, die noch von strengen Regeln und feinen Umgangsformen geprägt war. Das Schreiben und Gestalten wurde Teil einer Geste der Wertschätzung, und es war eine Ehre, ein Album zum Hineinschreiben überreicht zu bekommen.


Auch heute berühren uns diese persönlichen Zeilen, wenn wir alte Poesiealben aufschlagen und darin blättern. Wir lesen diese alten Zitate, persönlichen Worte, und sie rühren eine Seite in uns an, weil sie noch so unverstellt und echt sind. Niemand wollte damals cool wirken, jeder Eintrag war ein kleines Geschenk, in das viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit geflossen sind. Diese besondere Sorgfalt und Echtheit greifen wir heute auch beim Gestalten unserer eigenen Poesiealbum-Seiten im Rahmen der Mitmachaktion auf.

Mehr als nur Mädchenalben: Die Vielfalt in der Poesiealbum-Tradition


Auch wenn das Poesiealbum im 19. und 20. Jahrhundert vor allem als Sache junger Mädchen galt, sammelten manchmal auch Jungen und Männer auf ähnliche Weise Erinnerungen. So gab es etwa Schüler- oder Kameradschaftsalben, in denen junge Männer aus Schule oder Militär ihre Freundschaften festhielten. Zwar sahen diese Alben oft anders aus und hatten andere Inhalte, trotzdem spiegelten sie dasselbe Bedürfnis nach Verbundenheit und gemeinsamen Erinnerungen wider.


Auch international gab es ähnliche Traditionen, zum Beispiel in Frankreich, England oder Italien. Dort wurden Freundschafts- oder Widmungsbücher geführt, die ebenfalls Verse, Zeichnungen und persönliche Widmungen enthielten, oft mit ganz eigenen, regionalen Gestaltungsformen. Diese Vielfalt zeigt, dass die Idee, persönliche Botschaften über Generationen hinweg zu bewahren, nicht nur ein deutsches Phänomen ist, sondern in vielen Ländern Europas lebendig war.


Die Magie der Einträge


Heute erscheint das Poesiealbum wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, doch seine Wirkung ist zeitlos und wertvoll. Worte gewinnen Gewicht, wenn sie von Hand geschrieben sind, Freundschaft hinterlässt Spuren, und die Seite eines Albums kann mehr sein als Papier.


Denn Erinnerungen, die wir in dieser geschriebenen Form finden, können viel stärker abgerufen werden als Fotos oder digitale Nachrichten. Plötzlich sind wir wieder im Klassenzimmer als Grundschüler, wissen die Namen von Mitschülern, an die wir seit Jahrzehnten nicht gedacht haben. Die persönlichen Zeilen und Widmungen öffnen einen Moment der Vergangenheit und lassen Freunde, alte Geschichten und gemeinsame Erlebnisse wieder lebendig werden.


Persönliche Botschaften und kleine Gesten


Jede Seite ist wie ein kleines Fenster in eine andere Zeit. Verse, Zeichnungen, Glanzbilder oder Aufkleber erzählen von Momenten, von Lachen, Träumen und manchmal von kleinen Geheimnissen.


Eine Seite mit Aufklebern aus einem Poesiealbum.
„Glanzbilder“ aus meinem Poesiealbum

Beim Blättern spürt man die Hände, die sie gestaltet haben, und die Freude, mit der Gedanken und Wünsche weitergegeben wurden.


Auf diese Weise wird das Album zu einem lebendigen Mosaik aus Erinnerungen und verbindet uns auf besondere Weise mit anderen Menschen und unserer eigenen Vergangenheit.



Poesiealbum heute


Wie das Album amicorum damals die Studierenden Europas verband und das Poesiealbum Generationen von Mädchen und Jungen, so lebt auch heute noch etwas davon fort.


Digitale Fortsetzungen und moderne Formen


In digitalen Gästebüchern, sozialen Netzwerken oder Nachrichten, die wir einander schreiben, spiegeln sich die alten Rituale wider. Wir hinterlassen kleine Botschaften und teilen Zitate, Bilder oder Emojis als eine moderne Art, Freundschaft, Verbundenheit und Erinnerungen festzuhalten.


Auch das bewusste Gestalten spielt wieder eine Rolle: persönliche Collagen, Scrapbooks oder digitale Fotoalben sind eine zeitgenössische Fortsetzung der alten Einträge, in denen wir Kreativität und persönliche Wertschätzung sichtbar machen.


Heute werden in Kindergärten und Schulen oft Freundebücher weitergereicht, eine moderne Form des alten Poesiealbums. Die Art des Ausfüllens unterscheidet sich deutlich vom früheren Poesiealbum. Statt sorgfältiger handschriftlicher Einträge mit persönlichen Sprüchen, kleinen Zeichnungen oder Aufklebern geht es heute meist um kurze Angaben, vorgefertigte Fragen oder Sticker. Die Form ist spielerischer, erinnert an die alte Tradition, ist aber zugleich modern gestaltet.



Fazit/Ausblick auf Teil 2 der Artikelreihe


Worte, kleine Zeichnungen und persönliche Botschaften verbinden Menschen über Generationen hinweg und machen jedes Poesiealbum zu einem authentischen Zeitzeugnis. Auch heute wirken diese Erinnerungsstücke lebendig und wertvoll.


Vom Album amicorum über das klassische Poesiealbum bis zu modernen Freundebüchern oder digitalen Gästebüchern zieht sich die Idee von Erinnerung und Verbundenheit wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte. Ob handgeschrieben oder digital, die Kraft persönlicher Worte bleibt bestehen.


Im zweiten Teil der Artikelreihe geht es darum, wie diese Traditionen auch heute noch lebendig werden können: Welche Geschichten stecken hinter einzelnen Einträgen, und wie können sie uns inspirieren, unsere eigene Handschrift und Kreativität neu zu entdecken? Vielleicht entsteht daraus auch deine ganz persönliche Poesiealbum-Seite.



Weiterführende Werke zum Thema



  • Sachbücher und wissenschaftliche Arbeiten


    • „Das Poesiealbum“ von Jürgen Rossin (1985)

      • Umfassende Studie zu den Variationen des Poesiealbums als Textsorte. Rossin untersucht die Entwicklung und die verschiedenen Formen des Poesiealbums im deutschsprachigen Raum und analysiert seine kulturelle Bedeutung.

      • nur noch über Antiquariat erhältlich


    • „Poesiealbum und Glanzbild – Was Menschen bewegt(e)“ von Walter Methler und Eckehard Methler

      • Ausstellungskatalog zum Henriette-Davidis-Museum in Wetter (Ruhr), HDM-Verlag. Die Autoren analysieren Poesiealben und Glanzbilder aus dem 19. bis 21. Jahrhundert und beleuchten ihre Bedeutung als Ausdruck persönlicher Gefühle und sozialer Bindungen.

      • nur noch über Antiquariat erhältlich


  • Sammlungen und Ausstellungen

    • Die Klassik Stiftung Weimar verfügt über eine umfangreiche Stammbuchsammlung, die wertvolle Einblicke in die Geschichte des Album amicorum bietet.


  • Artikel und Interviews

    • In einem Interview erklärt Johann Hinrich Claussen, dass das Album amicorum seine Anfänge überraschenderweise in der Reformationszeit hat.



Kennst du schon meinen Newsletter? 


Mach deine Welt bunt – mein Newsletter mit Tipps und Infos zum Thema artCounseling, kreatives Gestalten, Kursangeboten und vielem mehr.

Ich freue mich über dein Interesse. Hier kannst du dich anmelden:


Logo Mach deine Welt bunt.












Kommentare


miniKreismitNamen_edited.jpg

Hast du Fragen oder Anregungen?

Schreib mir gerne persönlich hier unten über das Kontaktformular.

Danke für die Nachricht!

Impressum     Datenschutz     AGB

© 2021-2025 Susanne Heinen - artCounseling

bottom of page